6. Ost-westeuropäisches Gedenkstättenseminar

6. Ost-westeuropäisches Gedenkstättenseminar

Organisatoren
Gedenkstätte Stiftung Kreisau, Evangelische Akademie Berlin, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Ort
Krzyżowa
Land
Poland
Vom - Bis
23.04.2008 - 26.04.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Ronny Heidenreich, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Nachdem in den nunmehr sechs zurückliegenden Jahren die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kommunismus bei den Kreisauer Gedenkstättenseminaren im Vordergrund stand, luden die Veranstalter Stiftung Kreisau (Krzyżowa/Polen), Evangelische Akademie zu Berlin, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin) und Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Berlin) zum Erfahrungsaustausch über die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ein. Dieser scheinbare thematische Bruch war jedoch eine logische Fortführung der vorangegangenen Diskussionen, wie BERND FLORATH (Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin/Deutschland) einleitend bemerkte. Die in den letzten Jahren heftig diskutierte scheinbare Dichotomie zwischen einem westeuropäischen Holocaustnarrativ und einer osteuropäischen Gulagerfahrung seien Bestandteil einer gemeinsamen europäischen Vergangenheit. Dies umso mehr, als das Verschwinden des jüdischen Lebens in Osteuropa nicht auf den Holocaust reduziert werden kann. Die antizionistische und antisemitische Politik in Osteuropa vor und nach dem Zweiten Weltkrieg müssen in diesem Kontext mitgedacht werden. Dementsprechend stand vor allem der Umgang mit dem Holocaust in den staatssozialistischen Regimen Ostmittel- und Osteuropas im Fokus der folgenden Diskussionen.
Aufgrund der kurzfristigen Erkrankung von BOŻENA SZAYNOK (Universität Wrocław, Wrocław/Polen) fasste Ludwig Mehlhorn (Evangelische Akademie, Berlin/Deutschland) stellvertretend das Referat zusammen. Frau Szaynok setzte sich mit dem Holocaust in Polen vor und nach der Überwindung des Kommunismus auseinander. Am Beispiel der Umdeutung des Warschauer Ghettoaufstandes 1943 zeigte sie, wie die jüdische Leidensgeschichte durch die polnische Staats- und Parteiführung im Sinne eines nationalen polnischen Widerstandskampfes vereinnahmt wurde. Die Einflussnahme jüdischer Überlebender und Interessensverbände schwand im stalinistischen Nachkriegspolen und wurde erst durch die gesellschaftlichen Umbrüche der 1970er und 1980er Jahre wieder stärker betont. Besonders die Verbindung der damaligen politischen Oppositionsbewegung und der Aufstandsgeschichte zog eine "Politisierung unter umgekehrten Vorzeichen" nach sich und beförderten zugleich den polnisch-jüdischen Diskurs. Mit den bereits angeführten Phänomenen einer anonymisierenden Nationalisierung des Holocaust in den Nachkriegsjahren beschäftigt sich auch ZOFIA WÓYCICKA (Museum der Geschichte der polnischen Juden, Warszawa/Polen) im Rahmen ihrer Dissertation. Sie zeigte anschaulich am Beispiel der Memorialisierung der drei großen Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka und Majdanek, wie das Bemühen überlebender Juden mit dem Anspruch polnischer KZ-Häftlinge um eine Deutungshoheit über diese Orte kollidierte. So entstanden in allen drei Lagern in der unmittelbaren Nachkriegszeit Ausstellungen, in denen das Schicksal der Juden oft nur nach Intervention jüdischer Verbände thematisiert werden konnte, die jedoch in den 1950er Jahren zunehmend an Einfluss verloren. Vor allem jüdische Leidensorte wie Treblinka erhielten vor diesem Hintergrund im Gegensatz zu Auschwitz erst spät eine eigene Gedenkstätte und ihr Erfolg war vor allem von den lokalen Gegebenheiten abhängig. KRYSTYNA OLEKSY (Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Oświęcim/Polen) griff die Geschichte dieser wohl bekanntesten Holocaustgedenkstätte auf. Im Hinblick auf die Umgestaltung des Ortes seit 1989 legte sie dar, welche teils kontrovers diskutierten Anstrengungen unternommen werden mussten, um die Geschichte von Auschwitz als vor allem jüdisches Vernichtungslager deutlich zu machen. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die Internationalisierung des Gedenkstättenbetriebes, in dem mit dem Auschwitzrat und der Beteiligung europäischer Staaten an der inhaltlichen wie finanziellen Ausgestaltung des Gedenkstättenbetriebes die bis 1990 vorherrschende polnische Narration des Ortes aufgebrochen werden konnte. Symptomatisch hierfür ist die neue Erschließung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, das in den vergangenen zehn Jahren zunehmend in das Interesse der Besucher gerückt ist.
Ein anderer Ort, der trotz seiner einschlägigen Bekanntheit ebenfalls erst in der jüngeren Vergangenheit stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist, war Gegenstand des Referates von BORIS ZABARKO (Kyjv/Ukraine). Die Schlucht von Babyn Jar (deutsch: Babyj Jar) in Kiew, in der zwischen 1941 und 1943 mehr als 120.000 Menschen von den deutschen Besatzern ermordet worden waren, ist bis heute in weiten Teilen der Ukraine als jüdischer Leidensort unbekannt. Zabarko zeigte auf, wie der staatliche Antisemitismus während des Spätstalinismus eine Memorialisierung dieses Ortes in den Nachkriegsjahren verhinderte. Alle Bemühungen, hier ein Denkmal zu errichten oder schlicht Gedenkveranstaltungen durchzuführen wurden lange Zeit unterbunden. Die missglückte Überbauung des Ortes durch einen Staudamm wie auch Pläne für einen Freizeitpark auf den Massengräbern zeigte eindrücklich, dass ein Holocaustgedenken in der Sowjetunion nicht möglich war. Das jüdische Leiden musste sich einem sowjetischen Opfermythos unterordnen, wie das 1976 in Babyn Jar eingeweihte Mahnmal demonstriert, das an getötete "Sowjetbürger" erinnerte. Erst nach dem Wahlsieg des Staatspräsidenten Juščenko soll nun der Bau eines Mahnmals umgesetzt werden, wobei Zabarko kritisch bemerkte, dass nicht nur das staatliche verordnete Beschweigen des Verbrechens sondern vor allem das Schweigen der Bevölkerung gegenüber Babyn Jar Schuld an dieser verspäteten Initiative haben.
WILLIAM TOTOK (Berlin/Deutschland) befasst sich mit dem gegenwärtigen Stand der Holocaustdebatte in Rumänien. Totok, Mitautor des 2005 vorgelegten rumänischen Holocaustberichtes, machte deutlich, dass trotz der großen internationalen Aufmerksamkeit der Bericht in Rumänien bislang nur wenige Konsequenzen zeigte. So seien weder in nennenswertem Umfang neue Gedenkstätten oder Forschungseinrichtungen entstanden, noch ist in den öffentlichen Diskursen der rumänischen Politik eine Abkehr von den antisemitischen Narrativen der rumänischen Geschichte zu beobachten.
Anknüpfend an die Diskussionen um die polnischen KZ-Gedenkstätten griff RIKOLA-GUNNER LÜTTGENAU (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dorau, Weimar/Deutschland) die Geschichte der Memorialisierung des Lagers Buchenwald auf. In seinem Referat zeigte Lüttgenau anschaulich, dass die bislang referierte Erfahrung der Tilgung jüdischer Spuren zugunsten eines nationale Opfer betreffenden Massenverbrechens auch Leitfaden der Gedenkstätte Buchenwald bis 1989 war. In Kontrast zu den amerikanischen Versuchen der Nachkriegszeit, die Opfer in die Mitte der Bevölkerung zu holen, wurden sie im Konzept der seit 1950 aufgebauten Gedenkstätte Buchenwald zunehmend anonymisiert und damit auch die Schuld der deutschen Bevölkerung vom Leidensort entfremdet. Besonders Buchenwald war von der Meistererzählung des kommunistischen Lagerwiderstandes überlagert, die das KZ damit zu einem "Nationaldenkmal der DDR" stilisierte. Die Aufbrechung dieses Narrativ nach 1989 war eine der vorrangigen Aufgaben der Gedenkstätte, die mit einer vollständigen Überarbeitung der Ausstellung und der Erschließung neuer Bereiche einherging. Wichtigste Punkte des neuen Konzepts sind der Verzicht auf jegliche Inszenierung und eine zurückhaltende Narration der Lagergeschichte, die den Besucher zu einer eigenen Auseinandersetzung zwingt. Auf diese Weise konnte auch die Nutzung des nach 1945 eingerichteten sowjetischen Speziallagers nach anfangs heftigen Kontroversen schließlich erfolgreich in das Gedenkstättenkonzept eingegliedert werden.
Der Abend führte die Teilnehmer dann wieder zurück in die polnischen Debatten.
Die Probleme, die sich aus einem professionalisierten und auf Massenbetrieb angelegten Gedenkstättenbetrieb ergeben, wurden in dem gezeigten Film "Am Ende kommen Touristen" (Robert Thalheim, 2007) thematisiert. Die trotz der späten Stunde noch lebhafte Diskussion zeigte, dass der Umgang mit diesem sensiblen Ort im Spagat zwischen öffentlichem Gedenk- und Lernort einerseits und historischen Leidensort andererseits nicht immer konfliktfrei verläuft.
Den Auftakt des zweiten Seminartages bildete die Vorstellung der Wanderausstellung "Večernij zvon" (Abendglocke) durch JURIJ KALMYKOV (Ekaterinburg/Russland). Diese 2003 erstmals gezeigte Exposition vereint Briefzeugnisse aus der stalinistischen Sowjetunion, mit Hilfe derer die alltäglichen Erfahrungen der Menschen mit dem totalitären System aufgezeigt werden. Ergänzend zu den Textzeugnissen wurden aus Alltagsgegenständen bestehende Installationen hinzugefügt, welche die eindrücklichen Passagen anschaulich begleiteten.
Mit dem Referat von IRYNA KASHTALIAN (Minsk/Belarus) kehrte die Diskussion dann wieder zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust zurück. Am Beispiel der vom IBB Dortmund/Minsk ins Leben gerufenen Geschichtswerkstatt im ehemaligen Minsker Ghetto machte sie deutlich, dass ähnlich wie in der Ukraine auch in Belarus der Holocaust vor allem aufgrund der sowjetischen Geschichtspolitik kaum bekannt ist. Frau Kashtalian zeigte anhand der wenigen in Belarus existenten Denkmälern für die Opfer des Holocaust, dass bis heute eine breite Auseinandersetzung nicht erfolgt. Neben den Versäumnissen der Vergangenheit machte sie deutlich, das auch die gegenwärtigen politischen Verhältnisse nicht dazu beitragen, dass Thema in einer breiten Öffentlichkeit zu verankern. Die wenigen bestehenden Projekte, wie die Geschichtswerkstatt, wurden vom Ausland, vor allem von Deutschland, initiiert und sehen sich immer wieder Anfeindungen durch die Behörden ausgesetzt. Die Geschichtspolitik des Landes hält bis heute an der Meistererzählung des nationalen Widerstandskampf fest, in den sich die Perspektive des jüdischen Leids bislang nicht einpassen lässt.
In den letzten drei Beiträgen des diesjährigen Gedenkstättenseminars wurde Projekte aus der Praxis vorgestellt. ANNA LITTKE (Berlin/Deutschland) und WIKTORIA MÜLLER (Edith Stein Haus, Wrocław/Polen) präsentierten ein trinationales Begegnungsprojekt zwischen Jugendlichen und "Gerechten unter den Völkern", die heute in Polen leben. Am Beispiel des vergangenen Seminars, an dem Jugendliche aus Israel, Polen und Deutschland, teilnahmen, legten sie dar, welche Möglichkeiten aber auch Schwierigkeiten sich aus der Durchführung derartiger Projekte ergeben können. Trotz des eingehend vorbereiteten ambitionierten Vorhabens zeigte sich auch in der anschließenden Diskussion, dass viele der angesprochen praktischen Probleme durch eine fundierte wissenschaftliche wie didaktische Begleitung hätten verhindert werden können. Einen Einblick in die Bildungsarbeit einer Gedenkstätte gab anschließend JOANNA DYDUCH (Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz, Oświęcim/Polen). Die 1986 als Lern- und Begegnungsort entstandene Einrichtung bietet heute zahlreiche verschiedene Angebote, die entsprechend der Interessen der Jugendlichen eine zeitgemäße und didaktisch ansprechende Vermittlung der Geschichte des Holocaust gewährleisten. Neben Fotoworkshops oder speziellen Seminaren zu Frauen in Auschwitz, werden heute auch Workshops für Behinderte angeboten, so dass ein möglichst breites Besucherspektrum angesprochen wird. EVA BRÜCKER (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin/Deutschland) stellte abschließend zwei überaus spannende und innovative Internetportale vor, die zum Frühjahr 2009 online gestellt werden. Zum einen wird eine Übersicht zu Gedenkzeichen und Gedenkstätten erarbeitet, die ansprechend aufbereitet, dem Nutzer einen Einblick in die Erinnerungslandschaft an den Holocaust in Europa bietet und durch umfangreiche Informationen zur Auseinandersetzung mit den vorgestellten Orten anregen soll. Ein zweites ambitioniertes Projekt betrifft die Digitalisierung von Zeitzeugeninterviews Holocaustüberlebender, die mit hohem technischem und didaktischem Aufwand aufbereitet und veröffentlicht werden. So werden neben kompletten Videomitschnitten auch verschlagwortete Transkripte in deutscher und Originalsprache zur Verfügung gestellt, die in voller Länge zur Verfügung stehen. Damit sollen diese wichtigen Zeugnisse, so Eva Brückner, nicht nur allgemein zugänglich gemacht sondern auch der Stellenwert der Zeitzeugen bei der Beschäftigung mit dem Holocaust gesichert werden, da diese für Forschung und Bildungsarbeit bald nicht mehr zur Verfügung stehen.
Den Abschluss des 6. Gedenkstättenseminars bildete eine Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Gross Rosen (Rogożnica /Polen). In der anschließenden Auswertungsrunde wurde deutlich, dass der Aufarbeitung des Holocaust in Ost- und Ostmitteleuropa strukturell ähnliche Schwierigkeiten im Wege stehen, wie sie auch bei der Memorialisierung der Verbrechen des Kommunismus anzutreffen sind. Die Referate haben gezeigt, dass die im Westen als unzureichend wahrgenommene Thematisierung des Holocaust nicht nur eine Folge Rekonstruktion nationaler Geschichtsbilder, sondern vor allem auch Erbe der sowjetischen Geschichtspolitik ist. Damit wird deutlich, dass die Aufarbeitung beider totalitärer Systeme und des Holocaust im Besonderen im Kontext behandelt werden muss. Der internationalen Vernetzung und dem Austausch kommen dabei besondere Bedeutung zu, wofür das mit 47 Teilnehmern aus sechs Staaten bislang größte Gedenkstättenseminar in Kreisau einen geeigneten Rahmen bot. Erstmals wurde im Vorfeld der Tagung von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auch eine internationale Gedenkstättenexkursion mit Teilnehmern aus Russland und der Ukraine verbunden, die ebenfalls aufgrund des großen Zuspruchs fortgesetzt werden soll. Das 7. Kreisauer Gedenkstättenseminar, das im März 2009, stattfinden wird, widmet sich dem 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes 1939. Die in diesem Jahr begonnene Debatte über die doppelte Vergangenheit Ost- und Ostmitteleuropas wird so fortgeführt.

Konferenzübersicht:

1. Sektion: Erinnerung an den Holocaust – Perspektiven und Standpunkte
Bernd Florath, Ludwig Mehlhorn, Anna Kaminsky: Einführung
Bożena Szaynok: Die Erinnerung an den Holocaust während und nach der Überwindung des Kommunismus
Zofia Woycicka: Unterbrochene Trauer. Der Streit um Gedenken und Erinnern in den nazistischen Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen 1944-1950
Krystyna Oleksy: Umgang mit den Umformungen der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau
Boris Zabarko: Der Umgang mit dem Ort Babyn Jar
William Totok: Die Aufarbeitung des rumänischen Holocaust
Rikola-Gunnar Lüttgenau: Die Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald seit 1945 und nach 1989
Jurij Kalmykov: Vorstellung der Ausstellung „Večernyj zvon“
Iryna Kashtalian: Der Umgang mit dem Holocaust in Belarus

2. Sektion: Projektteil Forum historisch-politischer Bildungsarbeit
Anna Littke, Wiktoria Miller: Polnisch-israelisch-deutsches Jugendprojekt: Gerechte unter den Völkern
Eva Brücker: Datenbankprojekte zu Erinnerungsorten und Zeitzeugeninterviews am Ort der Information


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts